Störungen sind das Gesetz des Dschungels
Störungen sind das Gesetz des Dschungels
„Tradition ist kein Geschäftsmodell“, meinte Jeff Jarvis schon 2011. Zehn Jahre später hat sich seine Prophezeiung erfüllt. Getrieben durch die aktuelle Pandemie geraten bewährte Geschäfte ins Wanken. Wer sein Heil aber in wahllos digitalisierten Prozessen sucht, wird kaum eine Lösung finden. Denn die tiefgreifenden Umwälzungen haben mehr mit menschlichen Urinstinkten als mit Bits und Bytes zu tun.
Was früher galt, wird in der Geschäftswelt gerade komplett auf den Kopf gestellt. Abläufe, die Jahre oder Jahrzehnte für stabile Einnahmen gesorgt haben, brechen innert kürzester Zeit weg. Die Hoffnung, dass sie in der gleichen Form zurückkehren werden, dürfte sich nicht erfüllen. Der Fortschritt in der Digitalisierung hat innert kürzester Zeit riesige Schritte gemacht. Jeder reglementiert repetitive Prozess, der digitalisiert werden kann, wird es auch – entweder die Unternehmen nehmen das an oder sie werden früher oder später verschwinden. Dabei geht aber oftmals vergessen, dass die neuen Möglichkeiten nur Werkzeuge sind, die teils (radikale) Abkürzungen bieten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Auf dem Markt zählt nur der Wert
Jedes Angebot, das auf dem Markt bestehen soll, hat eine zentrale Funktion: Es löst für die Kundschaft ein konkretes Problem oder befriedigt ein bestimmtes Bedürfnis. That’s it. In einer Welt des Überflusses und der permanenten Verfügbarkeit muss genau dieser Aspekt im Fokus stehen. Und da praktisch für alles mehrere Alternativen bereitstehen, muss auch der inhaltliche Wert des Angebotes den Käufer*innen passen. Auch wenn es hart klingt: Niemand interessiert sich für die Probleme der Unternehmen. Nur der erkennbare (Mehr-)Wert der Angebote zählt.
Die neuen Regeln sind gar nicht so neu
Der Mensch nimmt alles an, was sein Leben schneller, einfacher und bequemer macht. Dies hat mit unserer Herkunft vor mehreren zehntausend Jahren zu tun, wo jeder kleine persönliche Vorteil über Tod oder Leben entscheiden konnte. Diese „Spielregeln“ sind tief in uns verankert und bestimmen unser Verhalten bis heute. Die neuen Regeln sind somit uralte Regeln. Für Unternehmer*innen heisst das: Wenn ein Mitbewerber ein Angebot günstiger, schneller, besser anbieten kann, wird er es tun. Jede Firma muss die eigenen Schwachstellen finden, bevor es jemand anders tut. Und gleichzeitig Schwachstellen in den Angeboten der anderen suchen, um das eigene, bessere Angebot zu platzieren.
Der Mensch ist seit Urzeiten disruptiv
Störungen sind das Gesetz des Dschungels. Und der Wirtschaft. Dies mag auf den ersten Blick beunruhigend klingen, aber eigentlich ist das für uns eine gute Botschaft – es gibt sehr wenige andere Lebewesen, die sich per Definition so schnell auf neue Anpassungen einstellen können. In der gesamten Geschichte der Menschheit hat es immer wieder grundlegende Umwälzungen gegeben. Dies ist die Regel, nicht die Ausnahme. Statt uns darüber aufzuregen, müssen wir der Tatsache ins Auge sehen und erkennen, dass es nicht die „Digitalisierung“ ist, die in nie gesehener Geschwindigkeit neue Realitäten schafft. Wir als Gesellschaft sind es, die diese Angebote ohne Verzögerungen annimmt und „Altes“ plötzlich links liegen lassen. Es ist eine Binsenwahrheit: Wir sind der Markt und steuern ihn. Nicht umgekehrt.
Dies heisst aber auch, dass eine Demokratisierung der Angebote möglich ist. Nicht die Grössten werden gewinnen, sondern die Schnellsten und die Mutigsten. Die neuen Werkzeuge sind nur das, was sie sind: Neue Werkzeuge. Die Chance für heimische KMU liegt in regionalen und überregionalen Märkten: Wir können je länger je mehr mit den gleichen Möglichkeiten wie die Marktleader arbeiten, kennen aber die Kunden viel besser und können somit auch spezifischere Angebote gestalten. Wir sind keine anonymen und globalisierten Konzerne, sondern der bewährte Anbieter um die Ecke, der auch persönlich zur Verfügung steht; einfach mit neuen Hilfsmitteln. Eine weitere Analogie zur Frühgeschichte: Das grösste Wachstums- und Leistungspotenzial liegt in Kooperationen, Netzwerken und Ökosystemen – Kooperation statt Konfrontation. Man kann den Markt und den Dschungel nicht alleine kontrollieren.
Fabio Aresu ist Markeningenieur, Spezialist für Digital Business Engineering, Employer Branding und Organisator des Jungunternehmerforums Graubünden.
Erschienen in der Südostschweiz Graubünden vom 30. Januar 2021.